21 000 getötete Patienten in deutschen Krankenhäusern? Über den Unterschied von „empirischen Schätzungen“ und repräsentativen Hochrechnungen

Kürzlich erregte eine „Studie“ viel Aufmerksamkeit, die gar nicht in einer Fachzeitschrift veröffentlicht wurde. Tatsächlich erschien sie gleich als Buch und trägt den Titel „Tatort Krankenhaus“. Darin beschreiben die Autoren Karl H. Beine (Chefarzt in Hamm und Hochschullehrer an der Universität Witten-Herdecke, Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie) und Jeanne Turczynski Krankenhäuser als potentielle und tatsächliche Tatorte von Patiententötungen.

Die Kernaussage des Buches lautet, dass die bekannt gewordenen Fälle von Patiententötungen durch Angehörige des Pflegeberufes keineswegs Einzelfälle sind, sondern systemimmanent sind. Das Risiko einer Patiententötung im Krankenhaus wäre demnach sehr hoch, wird aber nicht durch die statistischen Werte widergespiegelt. Die Dunkelziffer ist deutlich höher als die offiziellen Zahlen und kann durch „empirische Schätzungen“ und „Kalkulationen“ auf 21 000 (aktiv) getötete Patienten jährlich (!) beziffert werden.

Nun stellt sich die Frage, wie diese erschreckende Zahl ermittelt wurde. Denn sollte diese tatsächlich belegt werden können, wäre der Titel des Buches „Tatort Krankenhaus“ mehr als gerechtfertigt.

Wachsende Ökonomisierung im Krankenhaus als Ursache

Zunächst greifen die Autoren in dem Buch einen wichtigen Umstand auf, nämlich die Tatsache einer wachsenden Ökonomisierung des stationären Gesundheitswesens, die Abrechnungsart der Fallpauschalen, die zweifellos Fehlanreize fördert, die zunehmende Bedeutung des betriebswirtschaftlichen Handelns in den Kliniken sowie die daraus resultierenden Personaleinsparungsmaßnahmen und Arbeitsverdichtungen. Die Autoren bezeichnen das Gesundheitssystem deswegen als marode, es fördere praktisch Tötungsdelikte im Krankenhaus.

Mit den Auswirkungen der ökonomischen Logik auf Gesundheitseinrichtungen und auf das darin tätige Personal beschäftigen sich mittlerweile viele wissenschaftlichen Beiträge, Studien und Bücher. Auch in diversen Bachelorarbeiten, Masterarbeiten und sonstigen Abschlussarbeiten in pflegewissenschaftlichen Studiengängen wird dieses Thema gerne aufgegriffen und untersucht.

Die Autoren des Buches gehen allerdings einen großen Schritt weiter und treffen auf Basis ihrer Befragungsergebnisse eine verallgemeinernde Schlussfolgerung, die sie als „empirische Schätzung“ bezeichnen. Demnach handelt es sich bei Patiententötungen, wie sie in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit erschrocken diskutiert wurden, keineswegs um Einzelfälle, sondern nur um die Spitze des Eisberges. Insofern kommt der Frage, auf welcher Grundlage diese Schlussfolgerungen gezogen werden und die Zahl 21 000 zustande kommt, erhebliche Bedeutung zu.

Die Untersuchungsmethodik des Buches

Zunächst also zur Befragung, deren Untersuchungsmethodik man zumindest als kritikwürdig bezeichnen kann. Im Rahmen der im Herbst 2015 durchgeführten Erhebung in Form von Selbstauskünften wurden 5055 Beschäftigte in Gesundheitsberufen Fragen vorgelegt wie: „Haben Sie selbst schon einmal aktiv das Leiden von Patienten beendet?“. Man beachte jedoch, die Frage lautete nicht: „Haben Sie selbst schon einmal aktiv das Leben von Patienten beendet?“

Offensichtlich hatte man Angst, dass dies nicht gerade die Teilnahmebereitschaft und Rücklaufquote fördern würde. Jedenfalls beantworteten die Frage 3,4 Prozent der Ärzte mit „Ja“ und 1,8 Prozent der Alten- und 1,5 Prozent der Krankenpfleger.

Zwar gibt Karl H. Beine zu, dass Umfrageteilnehmer solche Fragen falsch verstanden haben könnten und zum Beispiel das Abschalten von Maschinen aufgrund von Patientenverfügungen auch als das Beenden von Leiden interpretiert werden könnte. Hier handelt es sich jedoch um eine legale passive Sterbehilfe. Ebenso nimmt ein Arzt womöglich in Kauf, dass er bei einem Patienten, dem er Morphium spritzt, um Schmerzen zu lindern, lebensverkürzend handelt. Damit ist aber keineswegs eine aktive Tötung impliziert.

Auf Basis der ausgewerteten Fragebögen „schätzen“ die Autoren also die Zahl von 21 000 in deutschen Krankenhäusern getöteten Patienten. Damit ist nach Ansicht der Autoren klar, dass die bekannt gewordenen Fälle  nicht nur Einzelfälle sein können. Die Autoren weisen zwar daraufhin, dass ihre Erhebung bzw. das entsprechende Verfahren nicht repräsentativ sei (auch nicht die Zusammensetzung der Stichprobe). Allerdings lautet die Formulierung an einer Stelle des Buches: „Rechnet man diese Zahlen auf die Gesamtheit aller in Deutschland tätigen Ärzte und Pflegekräfte hoch […], würde sich folgendes Bild ergeben“ (S. 12). Eine solche Formulierung legt zumindest den Rückgriff auf eine Hochrechnung auf Basis einer repräsentativen Erhebung nahe, um die es sich aber eben nicht handeln soll.

Der Verdienst des Buches ist, dass es die Debatte zur Ökonomisierung des Gesundheitswesens im Allgemeinen und im Krankenhaus im Speziellen befördert und zuspitzt. Ob dies mit erlaubten Mittel geschieht, dies kann bezweifelt werden, da die Grenzen in der Wissenschaft zwischen „empirisch basierten Schätzungen“, Kalkulationen und Hochrechnungen keineswegs so fließend sind, wie es hier suggeriert wird. In jeder Bachelorarbeit und Masterarbeit würde eine solche Methodik und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen zu Recht kritisiert werden. Darüberhinaus ist die Diskussion zu den Auswirkungen der  Ökonomisierung im Krankenhaus in differenzierterer Form längst angestoßen. So veröffentliche 2016 z.B. der Deutsche Ethikrat seine Stellungnahme „Patientenwohl als ethischer Maßstab für das Krankenhaus„. Der fragwürdigen Zahl von 21 000 getöteten Patienten, die das Buch „Tatort Krankenhaus“ vor sich herträgt, ist zwar eine hohe Aufmerksamkeit sicher. Dem eigentlich berechtigten Anliegen dürfte sie aber damit wohl keinen Gefallen getan haben.