Seit an den meisten Universitäten keine generelle Anwesenheitspflicht mehr herrscht, wird mit zunehmender Intensität darüber diskutiert, ob dies einen Schritt hin zur Selbstverantwortung der Studierenden darstellt oder doch eher unbeabsichtigte Nebenwirkungen hervorruft.
Während auf der einen Seite die Freiheit der Studierenden betont wird, da die Segnungen moderner Informationstechnik mittlerweile ein zeit- und ortsunabhängiges Lernen möglich machen (Stichwort Massive Open Online Courses (MOOC)), wird auf der anderen Seite darauf hingewiesen, dass Lernen ohne den akademischen Diskurs wenig erfolgversprechend ist. So wird bezweifelt, dass sich die Studierenden ohne Weiteres eigenständiges Wissen und Kompetenzen aneignen können, das sie in den Prüfungen abrufen können. Dabei schwingt die Befürchtung mit, dass die Hochschulen zu reinen Prüfungskommissionen mutieren und nur noch gebraucht werden, um die Kompetenzen der Studierenden abzufragen.
Eine besonders paradoxe Situation hat hierbei das Bundesland NRW herbeigeführt, nämlich durch die Verankerung zweier offensichtlich konträrer Vorschriften im neuen Hochschulgesetz. Vorschrift eins: „Die Hochschulen sind dem Studienerfolg verpflichtet.“ Vorschrift zwei: das Verbot von „Anwesenheitsobliegenheiten“. Wie eine Hochschule jedoch einen Studienerfolg für jemanden garantieren soll, der auf die Inanspruchnahme des Studienangebotes verzichtet, bleibt hierbei mindestens unklar.
Internationale Studienergebnisse
Deshalb hilft möglicherweise ein geweiteter Blick auf internationale Studienergebnisse, die den Schluss nahe legen, dass sich die Noten verschlechtern, sobald die Anwesenheitspflicht aufgehoben wird. Offenbar gibt es einen Zusammenhang zwischen einer allzu laxen Handhabung des Lernens vor Ort und einer gewissen Überforderung vieler Studierenden. Einleuchtend erscheint daher, dass viel von der persönlichen Fähigkeit der Studierenden abhängt, sich hinsichtlich der Wissensaneignung eigenverantwortlich zu strukturieren und zu motivieren.
Ob jedoch alle Studierenden hochmotivierte „Digital Natives“ sind, die sich problemlos jede Vorlesung aus dem Netz ziehen, und deren Inhalte ohne jeglichen Austausch verstehen und verinnerlichen, darf bezweifelt werden. Vielmehr sprechen die Ergebnisse aus der Lernforschung dafür, dass die digitale Aufbereitung von Lerninhalten ergänzend zur Präsenzlehre erfolgen sollte, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen.
Mit der Digitalisierung verändert sich zweifellos die Rolle und das Verständnis der Universitäten. Diese müssen sich fragen, wie sie als Orte des Diskurses und der Lerngemeinschaft ihren Studierenden eine neue Bildungsqualität vermitteln können. Auch die strikte Aufteilung der Rollen nach Lehrenden und Lernenden wird aufgeweicht, da Studierende eine fordernde und aktivere Rolle einnehmen (können), während Lehrende ihre Rolle von Spezialisten, die ihr exklusives Wissen teilen und vermitteln, wandeln müssen hin zum begleitenden Lerncoach. Diese Rolle können sie jedoch nur einnehmen, wenn sie einen Austausch mit den Studierenden pflegen können (und wollen).
Weitere Infos: Zeit 48/2015